- Aussetzung
Aussetzung, nach § 221 des Reichsstrafgesetzbuchs das Verbrechen, das derjenige begeht, der eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit (auch Trunksucht) hilflose Person aus einer Lage, in der ihr Hilfe und Schutz zu teil wurde, vorsätzlich in einen Zustand versetzt, in dem sie, falls kein rettender Zufall eintritt, an Leben und Gesundheit gefährdet ist (A. im engern Sinn), oder der eine solche Person in hilfloser Lage vorsätzlich verläßt, obgleich sie seiner Obhut anvertraut war oder die Sorge für ihre Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme ihm oblag. Der barbarische Gebrauch der A. von Kindern war und ist noch bei nicht wenigen Völkern, wenn auch nicht durch das Gesetz, so doch durch Sitte und Herkommen gestattet. Bei den meisten Völkern des Altertums war das Aussetzen von Kindern gebräuchlich, wenigstens nicht verboten; so bei den Chinesen, Japanern, Hindu und andern asiatischen Völkern, aber auch bei den Griechen und Römern. Bei den Spartanern wurden z. B. schwächliche Kinder in einem Abgrund am Berge Taygetos ausgesetzt. Ausdrücklich verboten oder wenigstens nicht gebräuchlich war die A. nur bei den Juden, Ägyptern, Thebanern und den Germanen. In China, Ostindien und Japan ist die A. von Kindern noch heute in Übung. Das Christentum trat der Unsitte des Aussetzens der Kinder entgegen. Wenigstens verordnete man, daß die Kinder vor den Kirchentüren, nicht aber an entlegenen Orten niedergelegt werden sollten. Für die Aufnahme solcher Kinder wurden vielfach Findelhäuser (s. d.) eingerichtet. Seitdem brach sich die Ansicht Bahn, daß das Kinderaussetzen eine strafbare Handlung sei, die von der weltlichen Obrigkeit geahndet werden müsse. Die moderne Strafgesetzgebung erklärt nicht bloß die A. von Kindern, sondern auch die A. von hilflosen Personen überhaupt für strafbar. Das deutsche Strafgesetzbuch bedroht die A. (§ 221) mit Gefängnis nicht unter 3 und, wenn sie von leiblichen Eltern gegen ihr Kind begangen wird, nicht unter 6 Monaten bis zu 5 Jahren. Ist aber durch die A. eine schwere Körperverletzung der ausgesetzten oder verlassenen Person herbeigeführt, so tritt Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren und, wurde ihr Tod dadurch veranlaßt, Zuchthausstrafe bis zu 15 und nicht unter 3 Jahren ein. – Das österreichische Strafgesetzbuch (§ 149 ff.) kennt nur die A. von Kindern (Verbrechen der Kindesweglegung) und bestraft dieselbe mit schwerem Kerker von 1–10 Jahren, wenn die baldige Wahrnehmung und Rettung des Kindes nicht leicht möglich war, sonst mit Kerker von 6 Monaten bis 5 Jahren. Bei dem Ausmaß der Strafe ist maßgeblich, ob der Tod des Kindes erfolgt ist oder nicht. Vgl. Platz, Geschichte des Verbrechens der A. (Stuttg. 1876); Lallemand, Histoire des enfants abandonnés et délaissés (Par. 1885); Henning, Das Delikt der A. (Münch. 1899).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.