- Geisterseherei
Geisterseherei ist der Wahn, mit Geistern, namentlich mit solchen Abgeschiedener, in unmittelbaren Verkehr zu treten, sie sehen, hören und fühlen oder doch ihre Gegenwart empfinden, sie nach Belieben herbeirufen (»zitieren«), mit ihrer Hilfe Unheil abwenden und sich ihres Rates bedienen zu können. Dieser Glaube wurde früh durch Traumbilder, Fieberphantasien und Halluzinationen aller Art sehr bestärkt. Aus den Erfahrungen vorurteilsfreier Beobachter, wie des bekannten Berliner Buchhändlers Nicolai, des Professors L. v. Baczko und vieler anderer, ist bekannt, daß solche Erscheinungen zuweilen bei anscheinend normalem Befinden des Körpers und Geistes auftreten, bis zur deutlichen Sicht-, Hör- und Fühlbarkeit der Gestalten gehen und auch durch eine einseitige Erregung von Gehirnteilen wohl erklärbar sind. Das Widersinnige des Glaubens an G. liegt hauptsächlich in der Annahme, daß man mit immateriellen Wesen auf materielle Weise, nämlich durch das körperliche Gefühls-, Gehörs- oder Tastorgan, in Verkehr treten könne. Daher nehmen auch die modernen Geisterbeschwörer oder Spiritisten eine vorhergehende »Materialisation« der Geister an. Den Glauben an G. unterhielten nicht nur die meisten Religionssysteme, sondern auch viele philosophische Richtungen, wenn diese auch meist nur die innerliche Wahrnehmbarkeit der Geister voraussetzen, was nicht eigentlich G. genannt werden kann. Der Glaube an G. spielte nicht nur bei Naturvölkern und im Altertum eine kulturhistorisch bedeutsame Rolle, wie z. B. bei Griechen, Römern, Juden etc. (s. Nekromantie und Dämon), sondern hat sich auch im Christentum und um so leichter behaupten können, als die ältern Kirchenväter, z. B. Lactantius, die Nekromantie geradezu als Beweismittel für die Unsterblichkeitslehre, spätere Kirchenlehrer für das Dasein des Fegfeuers und des Teufels anriefen. Während es kurze Zeit schien, als hätte die sogen. Aufklärungsperiode diesen Glauben unter den Kulturvölkern ausgerottet, so daß er nur noch in Volkssagen, wie die von den Sonntagskindern, denen die Gabe der G. angeboren sein sollte etc., fortlebe, nahm er gegen Ende des 18. Jahrh. einen neuen Aufschwung, den man wohl als Reaktion gegen die Aufklärer ansehen darf. Swedenborg warb Anhänger für seine durch den Verkehr mit Geistern erhaltenen religiösen Offenbarungen, Lavater und Jung-Stilling versuchten eine neue Theorie der G. aufzustellen, so daß die Philosophen, wie Kant in seinen »Träumen eines Geistersehers« (1766), dagegen Stellung nehmen mußten. Lavater behauptete in seiner Übersetzung von Bonnets »Palingénésie« (1771) die sinnliche Wahrnehmbarkeit der übersinnlichen Geisterwelt, indem er sich mit Bonnet der schon von den alten Indern und Neuplatonikern aufgestellten und noch heute von den Spiritisten verteidigten Lehre eines feinern, ätherischen, gleich der Seele unsterblichen Körpers (Nervengeist, Astralgeist) anschloß. Diese und ähnliche Lehren fanden besonders in der Zeit von 1770–85 im protestantischen Deutschland, wo sich in tonangebenden Kreisen im Gegensatz zu der französischen Frivolität hier und da eine starke Neigung zu sentimental-religiöser Schwärmerei kundgab, williges Gehör, und mit der Geisterwelt arbeitende Industrieritter, wie Schröpfer, Cagliostro u. a., konnten jahrelang das Interesse selbst der gebildeten Welk in Anspruch nehmen. Einen weitern Aufschwung beförderte Mesmers Entdeckung des sogen. tierischen Magnetismus, dessen mißverstandene Tatsachen mystischen und schwärmerischen, aber auch betrügerischen Bestrebungen ein willkommenes Feld darboten. Seitdem hat sich der Glaube an die Möglichkeit eines Verkehrs mit der übersinnlichen Welt zu einer besondern, auf angeblichen Offenbarungen herbeigerufener und sogar photographierter Geister begründeten Lehre entwickelt, die sich mehr und mehr von der Verbindung mit den alten Religionsvorstellungen losmacht und namentlich in Amerika einem neuen Religionssystem zustrebt. S. Spiritismus. Die ungerufen erscheinenden Schreckbilder bezeichnet man gewöhnlich als Gespenster (s. d., dort auch die neuere Literatur über Geistererscheinungen). Die umfangreiche ältere Literatur findet man bei Grässe, Bibliotheca magica et pneumatica (Leipz. 1843). Vgl. Sierke, Schwärmer und Schwindler zu Ende des 18. Jahrhunderts (Leipz. 1874).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.