Evangelienharmonie

Evangelienharmonie

Evangelienharmonie, Zusammenarbeitung der vier Evangelien in eine zusammenhängende Darstellung unter möglichster Wahrung des Textbestandes und ohne Zutaten des Bearbeiters. Die erste E. lieferte um 170 Tatian (s.d.) in seinem auf Grund des griechischen Textes der Evangelien wahrscheinlich syrisch abgefaßten »Diatessaron« (d. h. »durch vier«, nämlich Evangelien), das unter den syrischen Gemeinden bis in die zweite Hälfte des 4. Jahrh. als das einzige Evangelienbuch galt. Der Bischof Theodoret von Cyrus ließ noch um 450 zweihundert in seinem Sprengel umlaufende Exemplare vernichten. Zur Rekonstruktion der verlornen Schrift bietet der vom heil. Ephräm (s.d.) zum »Diatessaron« verfaßte Kommentar und eine arabische Bearbeitung aus dem 11. Jahrh. reiches Material. Tatian begann mit den Anfangsworten des Johannesevangeliums unter Weglassung der Genealogien Jesu und scheint mit dem Text ziemlich frei umgegangen zu sein. Ein zweites »Diatessaron« bearbeitete im 3. Jahrh. der Alexandriner Ammonius, indem er das Evangelium des Matthäus zugrunde legte und auf die andern Evangelien durch Randbemerkungen verwies. Die von Bischof Viktor von Kapua zwischen 541 und 547 in den Codex Fuldensis der Vulgata aufgenommene lateinische E. (sogen. »Lateinischer Tatian«) ist nach dem Vorbild des »Diatessaron« Tatians gearbeitet, steht aber vom Original weiter ab als die arabische Bearbeitung. Eine althochdeutsche Übersetzung dieses Textes (sogen. »Deutscher Tatian«, hrsg. von Sievers, 2. Aufl., Paderb. 1892) entstand zu Anfang des 9. Jahrh. in Fulda. Selbständige harmonistische Bearbeitungen in deutscher Sprache sind der »Heliand« (s.d.) und Otfrieds »Krist« (s. Otfried). Augustin gab für derartige Bemühungen eine wissenschaftliche Anleitung in seinem Werk »De consensu evangelistarum«. Bestimmtere Grundsätze strebte man seit der Reformation an (Calvin, Chemnitz, Osiander u. a.). Für die von Martin Chemnitz (s.d.) begonnene und von Joh. Gerhard (s.d.) vollendete Bearbeitung der vier Evangelien wurde erstmalig die Bezeichnung E. (harmonia evangelica) gebraucht. S. auch Synopsis. Vgl. E. Ranke, Codex Fuldensis (Marb. 1868); Zahn, Tatians Diatessaron (Erlang. 1881); Ciasca, Tatiani evangeliorum harmoniae arabice (Rom 1888; engl. von Hill, Edinb. 1894); Hjelt, Die altsyrische Evangelienübersetzung und Tatians Diatessaron (Leipz. 1903). Zum »Diatessaron« des Ammonius vgl. Schmidtke, Die Evangelien eines alten Unzialkodex (Leipz. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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