- Billigkeit
Billigkeit (lat. Aequitas), die natürliche Gerechtigkeit, die alle Verhältnisse mit gerechtem Maß bemißt und für jeden das ihm Gebührende festsetzt. Jedes positive Recht soll sich bestreben, diese Aequitas zu verwirklichen. Freilich kann die Gesetzgebung auf der andern Seite nicht alle besondern Verhältnisse berücksichtigen; die Sicherung des rechtlichen Verkehrs macht es vielmehr notwendig, daß Durchschnittsregeln aufgestellt werden. Diese bilden dann ein strenges, durchgreifendes Recht (jus strictum), und im Gegensatz hierzu werden die Rechtsnormen, die mehr der Individualität und besondern Verhältnissen Rechnung tragen, als Rechte der B. (jus aequum) bezeichnet. Für den Richter ist die B. Leiterin in richtiger Auslegung und Anwendung der Gesetze. Alle menschlichen Gesetze bleiben unvollkommen, da es geradezu unmöglich ist, die unendliche Mannigfaltigkeit stets neu sich erzeugender Rechtsverhältnisse und die vielfache Gestaltung der Fälle von vornherein sich vorzustellen und zu regeln. Hier muß der Richter die Lücken des bestehenden Rechts im Geiste desselben und mit Berücksichtigung der Zeitumstände und des Bedürfnisses ergänzen und danach Recht sprechen, weshalb auch die römischen Juristen die Aequitas ausdrücklich als Rechtsquelle mit ausgeführt und ihr bei der Rechtspflege einen großen Spielraum gelassen haben. Die Prätoren (s. d.) insbes. veröffentlichten bei ihrem Amtsantritt ein förmliches Programm, nach welchen Grundsätzen sie Recht sprechen würden, und so entstand neben dem strengern Recht ein besonderes prätorisches Recht, das den Verkehrsverhältnissen billige Rechnung trug, und wodurch jenes sogar insoweit modifiziert ward, als dies ohne Schaden für den ganzen Rechtsorganismus geschehen durfte. Außer in Rom hat sich der Gegensatz zwischen Recht und B. nirgends so stark ausgebildet wie in England, wo neben den Gerichten des gemeinen Rechts noch sogen. Billigkeitsgerichte (courts of equity) bestehen (s. England [Rechtspflege]). Auch in Nordamerika bestehen in einigen Staaten der Union dergleichen Gerichte. Selbst Katharina II. von Rußland errichtete ähnliche unter dem Namen Gewissensgerichte. In Deutschland, wo die B. sich schon früh geltend machen konnte, gibt es außer den Schiedsgerichten und den Schiedsmännern keine besondern Institute dieser Art. Dagegen verweist das Bürgerliche Gesetzbuch in einer Reihe von Paragraphen direkt auf das »billige Ermessen«, sei es eines der Vertragschließenden (§ 315), sei es eines Dritten (§ 316), sei es endlich der Richter (§ 319) bei der Bestimmung einer Vertragsleistung. Es soll danach in solchen Fällen der Inhalt der Verpflichtung nicht nach bestimmten Vorschriften, sondern nach dem objektiven Maßstabe des billigen Ermessens bestimmt werden. Vgl. Ortmann (in der Zeitschrift »Das Recht«, Bd. 5, Nr. 1 u. 2,1900).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.