- Verbum
Verbum (lat., Zeitwort, Aussagewort), der Redeteil, der im Ganzen des Satzes die Bestimmung hat, die von dem Subjekt des Satzes zu machende Aussage auszudrücken. Das Nomen, d. h. Substantivum (s. d.) und Adjektivum (s. d.), und das V. sind, wie schon Aristoteles erkannte, die beiden wichtigsten Redeteile, und nur wenigen Sprachen geht die grammatisch-formale Unterscheidung zwischen Nominal- und Verbalformen ab. Nach ihrer Form teilt man die Verba ein in Wurzelverba (verba primitiva), z. B. trinken, binden, und abgeleitete Verba (v. derivata), z. B. tränken; sind letztere von einem Nomen abgeleitet, wie z. B. färben, säuern, so heißen sie v. denominativa; ferner in einfache (v. simplicia), z. B. trinken, binden, stärken, und zusammengesetzte Verba (v. composita), z. B. betrinken. verbinden, anbinden. Nach der Bedeutung unterscheidet man zwischen transitiven Verba, d. h. solchen, die ein direktes Objekt regieren, z. B. ablegen, kennen, und intransitiven (v. intransitiva oder v. neutra), d. h. solchen, die nur ein indirektes Objekt oder gar keins bei sich haben, z. B. gereichen, helfen, laufen, leben; unpersönlich (v. impersonale) nennt man ein V., das der Natur der Sache nach nur ein unbestimmtes Subjekt haben kann, z. B. es blitzt, es regnet. Wenn ein für sich transitives V. mit dem Akkusativ eines Reflexivpronomens (mich, dich, sich etc.) verbunden gedacht oder wirklich verbunden wird, um eine intransitive Tätigkeit zu bezeichnen, so nennt man das V. ein reflexives (v. reflexivum), z. B. sich grämen, sich täuschen, sich widersetzen. Wird ein sonst nicht reflexives V. in der reflexiven Form in der ersten, zweiten oder dritten Person des Plurals gebraucht, so bezeichnet es eine reziproke, d. h. eine wechselseitige Tätigkeit (v. reciprocum), z. B. wir lieben uns. Andre Abarten des Verbums sind das Frequentativum oder Iterativum, das öftere Geschehen, das Inchoativum, den Beginn, das Intensivum, die Intensität, das Faktitivum oder Kausativum. die Veranlassung, das Desiderativum, den Wunsch nach einer Handlung ausdrückend. Besonders reich sind an Formationen dieser Art unter den indogermanischen Sprachen das Indische (Sanskrit) und die baltisch-slawischen Idiome, außerdem das Türkische und andre uralaltaische Sprachen und die Bantusprachen in Südafrika. Im Latein nennt man Verba mit passiver Bedeutung, aber aktiver Form entweder Neutropassiva oder Neutralia passiva. Ihrer Abwandlung (Flexion, Konjugation) nach zerfallen die Verba in regelmäßige, d. h. solche, die nach einem bei der überwiegenden Mehrzahl der Verba übereinstimmend zur Anwendung kommenden Schema abgewandelt werden, und unregelmäßige oder V. anomala, bei denen größere oder geringere Abweichungen von diesem Schema stattfinden. Die wissenschaftliche Grammatik kennt freilich die letztere Klasse nicht, da auch in jedem unregelmäßigen V. eine Regel nachweisbar ist. Die Flexion zerfällt im Latein in vier, im Deutschen in zwei Unterarten (Konjugationen), die der starken (laufen, lief) und der schwachen Verba (lieben, liebte). Verba defectiva (»mangelhafte Verba«) heißen solche, die nicht alle sonst vorkommenden Verbalformen bilden können. Die Gesamtmasse der von einem regelmäßigen oder unregelmäßigen V. möglichen Formen zerlegt sich in zwei Hauptgruppen: V. finitum (»bestimmtes V.«) und V. infinitum (»unbestimmtes V.«). Nur die Formen der erstern Gruppe haben Personalendungen und enthalten eine vollständige Aussage, die schon für sich einen Satz bilden kann, z. B. sprich, und sind daher streng genommen allein wirkliche Verbalformen. Bei den Formen des V. finitum kommen hauptsächlich drei Beziehungen zu unmittelbarem Ausdruck: a) die Beziehung der Aussage auf eine bestimmte Person, erste, zweite, dritte, oder, im Dual und Plural, auf eine Zweizahl oder Mehrzahl von Personen; b) die Beziehung auf ein Zeitverhältnis, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, dann Vorvergangenheit etc.; c) die Beziehung zur Wirklichkeit, welche die Modalität der Handlung, als einer wirklichen oder bloß gedachten oder gewollten, zum Gegenstand hat. Jedes dieser Verhältnisse, mit andern Worten, Person nebst Numerus, Tempus und Modus des Verbums, wird durch besondere, mit dem Verbalstamm verbundene Endungen oder besondere Erweiterungen oder Modifikationen desselben zum Ausdruck gebracht. Verbalstamm heißt derjenige Wortteil, auf den sich alle Verbalformen zurückführen lassen; er tritt im Deutschen gewöhnlich am reinsten in der Ausrufeform hervor (z. B. hilf, vgl. helfen, half, hülfe, geholfen). In den ältern indogermanischen Sprachen wurde an den Verbalformen auch noch das Tätigkeitsverhältnis ausgedrückt. Es gab dafür zwei Reihen von Formen: für das aktive Verhältnis oder Activum und für das Medium, d. h. für dasjenige Verhältnis, wobei das V. in der reflexiven oder einer sonstigen besonders nahen Beziehung zum Träger der Aussage steht. Auch das Passivum konnte mit den letztern Formen bezeichnet werden. Auch diese Verhältnisse, das sogen. Genus des Verbums, gelangten an den Endungen zum Ausdruck. An Tempusstämmen wurden folgende unterschieden: das Präsens zur Bezeichnung einer dauernden, der Aorist zur Bezeichnung einer momentanen und das Perfekt zum Ausdruck der vollendet vorliegenden Handlung. Der Indikativ des Präsens und in gewissem Sinn auch der des Perfekts (z. B. lat. perii, »ich bin verloren«) gingen auf die Gegenwart, das Imperfektum, der Indikativ des Aorists und das Plusquamperfekt auf die Vergangenheit. Dazu kam das Futurum, zum Ausdruck der beabsichtigten oder überhaupt zukünftigen Handlung. Es gab vier Modi, die den Inhalt der Aussage entweder als etwas Wirkliches oder Mögliches oder Wünschenswertes, oder als einen Befehl hinstellten, nämlich den Indicativus, Conjunctivus oder Subjunctivus, Optativus oder Potentialis und Imperativus. Dieser Reichtum an Formen des V. finitum hat sich später in den indogermanischen Sprachen immer mehr verringert, jedoch nicht, ohne daß für manche der verlornen Formen Ersatz geschaffen wurde, teils durch Neubildungen, wie im lateinischen Passivum (ihm gehören auch die Verba deponentia an, die passive Form, aber aktive Bedeutung haben), teils durch Hilfsverba, wie im deutschen Passivum durch »werden«, und andre in den neuern Sprachen übliche Wendungen. Am reinsten haben das Altindische und das Griechische das ursprüngliche Verbalsystem bewahrt. Das V. infinitum ist in den einzelnen indogermanischen Sprachfamilien sehr ungleichmäßig entwickelt worden. Man rechnet dazu alle diejenigen vom Verbalstamm abgeleiteten Formen, die entweder ganz wie Substantiva oder Adjektiva dekliniert werden, oder ihrer Entstehung und Bedeutung nach eigentlich zu den Substantiven gehören, also namentlich sämtliche Partizipien (Mittelwörter) und Infinitive, außerdem noch die Gerundia, Gerundiva, Supina und Absolutiva einiger Sprachen. Von einem V. abgeleitete Nomina heißen Verbalnomina. Noch größer als in den indogermanischen ist der Reichtum an Formen in einigen agglutinierenden Sprachen. Für die Syntax des Verbums ist besonders die Consecutio wichtig, d. h. das Verhältnis der Tempora der Nebensätze zu demjenigen des Hauptsatzes. Vgl. G. Curtius, Das V. der griechischen Sprache (2. Aufl., Leipz. 1877–80, 2 Bde.); Delbrück, Das altindische V. (Halle 1874); Brugmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik, Bd. 2 (Straßb. 1892), und Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen (das. 1903).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.