Tarifverträge

Tarifverträge

Tarifverträge (Tarifvereinbarungen, Tarifgemeinschaften), gewerbliche, sind Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über die Arbeitsbedingungen, Löhne, Arbeitszeit, Überarbeit etc. Ihre Grundlage bilden die gewerblichen Organisationen, ihren Zweck die Regelung des Arbeitsverhältnisses auf Grund eines von den Organisationen der Arbeitgeber (Arbeitgeberverbände) und der Arbeitnehmer (Gewerkschaften, Gewerkvereine etc.) vereinbarten Tarifs, der einen bestimmten Lohn für genau umgrenzte Leistungen festsetzt und damit in das Arbeitsverhältnis Stetigkeit, Sicherheit und Ordnung bringt. Vor zehn Jahren war der Begriff des Tarifvertrags, den zuerst die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in ihr Programm aufgenommen hatten, in weitern Kreisen kaum bekannt, das Prinzip selbst wurde noch von den sozialdemokratisch gerichteten Gewerkschaften energisch bekämpft; heute schätzt man, daß im Deutschen Reiche 3–4000 T. bestehen. Der älteste und bekannteste Tarifvertrag ist die Tarifgemeinschaft der Buchdrucker, die nach langen Kämpfen um den Tarif 1896 abgeschlossen wurde. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine vertraten die Forderung schon 1868 und haben strikte daran festgehalten. Ihr neues Programm vom Mai 1907 erklärt: »Die Festsetzung der Arbeitsbedingungen hat unter der gleichberechtigten Mitwirkung von Arbeitgebern und von Arbeitnehmern zu erfolgen. Der geeignete Weg hierzu ist der Abschluß von Tarifverträgen.« Seit dem dritten Gewerkschaftskongreß, der vom 8.–13. Mai 1899 in Stuttgart abgehalten wurde, stehen die Gewerkschaften auf dem gleichen Standpunkt, den heute alle organisierten Arbeiter (1905 etwa 2 Mill. im Deutschen Reich) vertreten. Ist die Organisation die Vorbedingung der Verbesserung der kulturellen Lage der Arbeiterschaft, so ist der Tarifvertrag in gewissem Sinn ihre Erfüllung, denn er macht den freien Arbeitsvertrag erst zur Wahrheit, indem er an die Stelle des einzelnen Arbeiters die Berufsklasse setzt. Vorbedingung des Tarifvertrags sind starke Organisationen, die in Deutschland auf der Seite der Arbeiter erst in den letzten 15, auf der Seite der Arbeitgeber erst in den letzten 5 Jahren geschaffen worden sind. Der Tarifvertrag hat wie jede kollektive Regelung der Arbeitsbedingungen auch seine Nachteile. Er kann die individuelle Tüchtigkeit nicht ausreichend berücksichtigen. Dieser Nachteil trifft die Arbeiter wie die Arbeitgeber. Man hat ihn auszugleichen versucht, indem man statt eines Tarifvertrags nur einen sogen. Schiedsvertrag abschließt, auf Grund dessen Vertrauensmänner der am Arbeitsprozeß beteiligten beiderseitigen Organisationen die Arbeitsbedingungen feststellen. Ein solcher Vertrag ist im Frühjahr 1907 in der Berliner Metallindustrie, zu der auch die Elektrizitätswerke mit ihrer vielseitigen und qualifizierten Arbeit zählen, zustande gekommen. Den Arbeitgeber sichert der Tarifvertrag vor allem vor der Schmutzkonkurrenz und den Arbeitsstreitigkeiten. Allerdings nur relativ. So ist im Mai 1907 der lange Jahre hindurch gewissenhaft erfüllte Tarifvertrag im Berliner Baugewerbe nicht wieder erneuert worden, weil die Arbeiter für die Erneuerung Bedingungen stellten, auf welche die Arbeitgeber nur teilweise eingehen zu können meinten. Die Folge waren Aussperrung und Streik, eine Niederlage der Arbeiter und das Ende des Tarifvertrages. Dagegen hat die älteste deutsche Tarifgemeinschaft, die der Buchdrucker, bisher alle Fährnisse bestanden. Im Juli 1897 gehörten dieser Gemeinschaft 1631 Firmen mit 18,340 Gehilfen in 469 Orten an, 1907: 6254 Firmen mit 54,553 Gehilfen in 1803 Orten. Sie umfaßte rund 70 Proz. der Betriebe und 90 Proz. der Gehilfen. Im J. 1907 ist sie selbst auf die ungelernten Buchdruckereihilfsarbeiter ausgedehnt worden und umfaßt danach mit allen ihren Einrichtungen, den paritätischen Arbeitsnachweisen, den Einigungsämtern und Schiedsgerichten sowie den tariflichen Bestimmungen für alle Arten von Arbeit, über 70,000 Arbeiter. Diese 70,000 Arbeiter haben ihr eignes Tarifamt, an dessen Spitze ein Jurist steht, und ihren eignen Tarifausschuß, alles paritätisch geordnet. Neuerdings ist auch für die deutschen Schiffswerften ein Tarifvertrag angenommen worden, der Arbeitszeit, Überarbeit, Löhne und Akkordarbeit regelt und von seiten der Arbeiter durch Delegierte des Metallarbeiterverbandes, des Holzarbeiterverbandes, des Verbandes der Schiffszimmerer, der Schmiede und der Kupferschmiede beraten und angenommen wurde. Auch die Generalversammlung des großen Verbandes der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter hat sich auf ihrem Verbandstag im Mai 1907 in Berlin für die tarifliche Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse erklärt. Die Bewegung ist nachgerade so weit entwickelt, daß, nachdem sich auch der Deutsche Juristentag mit dem Recht der Arbeit beschäftigt hat, im Reichstag durch den Abgeordneten Bassermann die gesetzgeberische Regelung des kollektiven Arbeitsvertrags, d. h. der T., verlangt worden ist. Vgl. »Der Tarifvertrag im Deutschen Reich«, bearbeitet im kaiserlichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik (Berl. 1906, 3 Bde.); Fanny Imle, Gewerbliche Friedensdokumente. Entstehung und Entwickelungsgeschichte der Tarifgemeinschaften in Deutschland (Jena 1905); Schall, Das Privatrecht der Arbeitstarifverträge (Jena 1907).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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