- Illusion
Illusion (lat.), im allgemeinen soviel wie Einbildung, Selbsttäuschung, im speziellen eine Art von Sinnestäuschungen (s. d.), und zwar, nach heutigem psychologischen Sprachgebrauch, im Gegensatz zur Halluzination, diejenigen, bei denen zwar ein äußeres Objekt (z. B. ein Baumstamm) da ist, aber vermöge einer unbewußten Umgestaltung des Wahrnehmungsbildes für etwas andres (z. B. eine menschliche Gestalt) gehalten wird. Eine wichtige Rolle spielt die I. in der Kunst; freilich nicht in dem Sinne, daß der ästhetisch Genießende den Gegenstand der Darstellung für wirklich hielte: die Wirklichkeit kann den ästhetischen Eindruck niemals steigern, wohl aber, sobald unsre Willensinteressen auch nur leise berührt werden, schädigen oder sogar vollständig zerstören. Die bald klar bewußte, bald nur unbewußt uns beherrschende Vorstellung, daß das Dargestellte nur auf Schein beruht, der in jedem Augenblick aufgehoben werden kann, ermöglicht sogar erst die ästhetische Versenkung in zahlreiche Erscheinungen des Lebens, die uns sonst unerträglich wären; sie trägt mit bei zu jener Abtönung der Gefühle, die eine wesentliche Vorbedingung des ästhetischen Genusses ist (vgl. Ästhetik, S. 898). Die künstlerische I. entwickelt sich erst auf Grund dieses ausdrücklichen Zugeständnisses der Nichtwirklichkeit des Gegenstandes. Sie besteht alsdann darin, daß wir in dem Kunstwerk ohne jeden Nebengedanken ausgehen, uns ihm ästhetisch, d. h. fühlend hingeben. Das geschieht aber nur, wenn es sich von allen das Gefühl störenden Elementen, insbes. von Verstößen gegen die Normen der Lebenswahrheit und der moralischen Anschauung (doch nur in dem Sinne, wie dies der Art. »Ästhetik«, S. 898 s. entwickelt) freihält. Häufig liegen aber auch die Gründe der Illusionsstörung ausschließlich in dem Verhalten des Aufnehmenden, der durch Nebengedanken an sein Ich, an die Person des schaffenden Künstlers oder andre Persönlichkeiten des wirklichen Lebens oder auch durch logische, moralische, pädagogische und religiöse Vorurteile den Akt des ästhetischen Genusses unterbricht, schädigt oder vollständig zunichte macht.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.