Etrurĭen

Etrurĭen

Etrurĭen (Tuscia, von den Griechen Tyrrhenia genannt, s. Karte beim Art. »Italia«), Landschaft auf der westlichen Seite von Mittelitalien, vom etruskischen Apennin bis zum Tibertal; im Altertum stark bevölkert, blühend und fruchtbar, hafenreich, im Besitz einer alten und eigentümlichen Kultur und von politischer Bedeutung. Die Hauptflüsse von E. waren der Arnus (Arno), der Clanis (Chiana), ein Nebenfluß des Tiber, und die Küstenflüsse Umbro (Ombrone), Albinia (Albegna), Armenta (Fiora) und Marta (Ausfluß des Volsinischen Sees). Die östlichen, am Fuß des Apennin gelegenen Teile sind ausgezeichnet durch mildes Klima, fruchtbaren Boden und reiche Bewässerung, aber auch der Westen, die jetzt sogen. Maremme, war im Altertum reich bebaut. Der ganze südliche Teil Etruriens ist vulkanischer Natur und wird nur von einzelnen Kalkbergen, so dem 740 m hohen Soracte, durchbrochen. Die zahlreichen, kesselartig eingeschlossenen Seen jener Gegend, der Trasimenus (Lago di Perugia) und der Volsiniensis (Lago di Bolsena), die beiden größten, ferner der Ciminius (Lago di Vico), der Sabatinus (Lago di Bracciano) und der Vadimonis (Lago di Bassano), füllen erloschene und eingestürzte Krater. An andern Stellen hatte die tuskische Wasserbaukunst die Seen durch Emissarien, die durch die Seiten der Berge gebrochen wurden, abgelassen, um dadurch Land für die Kultur zu gewinnen. Unter den Bodenerzeugnissen Etruriens sind besonders zu nennen: der clusinische Spelt (far), aus dem das einheimische Nationalgericht, der djcke Mehlbrei (puls), bereitet wurde, Flachs, Wein und Öl. Der Apennin lieferte herrliche Tannenstämme als Bauholz zu Wohnungen und Schiffen, so daß Rom einen großen Teil seines Bedarfs aus E. bezog. Auch Viehzucht, Fischfang und Jagd waren Nahrungszweige. Von Mineralien wurden Eisen auf dem benachbarten Ilva (Elba), Kupfer (bei Volaterrä) und silberhaltiges Blei in großen Massen gewonnen und zu Waffen, Statuen und Geld verarbeitet. Erst spät benutzt wurden dagegen die Marmorbrüche von Luna, wo jetzt der karrarische Marmor gewonnen wird. Die namhaftesten Städte Etruriens, deren Umfang z. T. noch heute die Reste ihrer einst mächtigen (kyklopischen) Umfassungsmauern bezeugen, waren: im nördlichen Teil in der untern Niederung des Arnus die alte Handelsstadt Pisä, oberhalb des erst im letzten Jahrhundert der römischen Republik nach Austrocknung der Sümpfe angelegten Florentia das feste Fäsulä (Fiesole; diese drei ursprünglich nicht zu E. gehörig) und im Quellgebiet des Arnus das mächtige, zugleich den Übergang in das Tibertal beherrschende Arretium (Arezzo); dann in Mitteletrurien Volaterrä (Volterra), im Küstenstrich Populonia, Rusellä und Vetulonia, auf den Vorhöhen des Apennin Cortona, Perusia (Perugia) hoch über dem Tibertal, davon westlich Clusium (Chiusi), der Herrschersitz des Porsena, und südlich Volsinii (Bolsena); endlich im S. Volci mit der Hafenstadt Cosa, Tarquinii, Cäre (Cervetri, in ältester Zeit Agylla, »Rundstadt«), uralte Handelsstadt mit dem Hafen Pyrgi, und das früh zerstörte Veji (Ruinen Isola Farnese).

Erst die neuere Zeit hat wieder anerkannt, welch bedeutende Stelle die Etrusker, die sich selbst Rasennä genannt haben, unter den Völkern des Altertums einnahmen, obwohl man über ihren Ursprung noch nicht klar geworden ist.

Von der etruskischen Sprache besitzt man zahlreiche Denkmäler, etwa 7000 Inschriften; der umfänglichste Text ist ein längeres Stück einer Bücherrolle, das sich unter den Binden einer ägyptischen Mumie gefunden hat. Ein mit dem italischen Etruskisch nahe verwandter Dialekt wurde auf der Insel Lemnos gesprochen, der durch zwei Inschriften (aus dem 7. Jahrh. v. Chr.) vertreten ist. Dem etruskischen Alphabet liegt, wie dem der andern altitalischen Stämme, das griechische zugrunde, so daß die Lesung der Inschriften auf keine Schwierigkeiten stößt. Verstanden und übersetzt ist aber bis heute noch keins von allen Denkmälern, und alle Versuche, die etruskische Sprache mit einer andern bekannten Sprache älterer oder neuerer Zeit in verwandtschaftliche Verbindung zu bringen, sind bis jetzt gescheitert. Insbesondere ist zu betonen, daß das Wenige, was man bis jetzt über den Bau der Sprache festzustellen vermochte, mit der Annahme, sie gehöre zu den indogermanischen Sprachen, schlechterdings unvereinbar ist. Als eine nichtindogermanische Sprache betrachtet das Etruskische neuerdings auch V. Thomsen in seinen durchaus methodisch vorgehenden »Remarques sur la parenté de la langue étrusque« (Kopenh. 1899), wo auf die auffallende Übereinstimmung einiger etruskischer Flexionsausgänge mit solchen der östlichen Gruppe der nordkaukasischen Sprachen hingewiesen wird. Wie die Bemühungen um die Sprache, so haben bisher auch die um die ethnologische Stellung der Etrusker ein sicheres oder auch nur wahrscheinliches Resultat nicht ergeben. Vgl. A. Torp, Etruskische Beiträge (Leipz. 1902–1903,2 Hefte); Derselbe, Etruskische Monatsdaten (Christiania 1902).

Hauptbeschäftigung der Etrusker waren Ackerbau und Handel zur See und zu Lande; ihrer Energie gelang die Austrocknung der sumpfigen Niederungen ihres Landes; zugleich aber führte sie schon in sehr früher Zeit ein Handelsweg über die Alpen nach dem Norden, und auf dem Meere waren sie nach den Griechen, Phönikern und Karthagern das bedeutendste Handelsvolk. In ihrem Privatleben tritt frühzeitig Neigung zu Pomp in Kleidung und Insignien hervor, wie ja auch vieles, was zu Rom die Magistrate äußerlich auszeichnete, die lictores, apparitores, die elfenbeinernen Kurulsessel, die toga praetexta, die Ausstattung der Triumphe von ihnen entlehnt wurde. Die alte berühmte Tapferkeit verschwand, je mehr sie sich der Verweichlichung und Schwelgerei zuwandten.

Die Kunst, Literatur und Götterlehre hat sich, von nationalen Anfängen ausgehend, unter griechischem Einfluß entwickelt, sich aber von dem den Etruskern eignen nüchternen und kalten Realismus nicht frei machen können. Das Selbständigste haben sie im Städtebau, namentlich in den Gewölben geleistet und sind in der Anlage der Häuser und im Wasser- und Tempelbau die Lehrer der Römer geworden. (Ausführliches über die Baukunst der Etrusker s. im Artikel »Architektur«, S. 711, mit Tafel IV, Fig. 1–11.) Ihre Metallarbeiten waren ein geschätzter Ausfuhrartikel, Schmucksachen, wie auf der Rückseite gravierte Spiegel (s. Abbildung beim Artikel »Spiegel«) und Toilettekästchen, Hausgeräte, wie Becher und Kandelaber, Waffenstücke. Dagegen haben sie in ihren Tongefäßen nur griechische Muster nachgeahmt und sind in den übrigen Werken der Plastik (s. Bildhauerkunst, S. 865), Tempelzierden und Sarkophagen mit figurenreichen Reliefs an den Seiten aus gebranntem Ton (s. Tafel »Terrakotten«) und aus Stein, immer plump und derb geblieben. Ihre Malerei, von der uns an den Wänden der Gräber in Tarquinii, Clusium, Cäre (s.d. mit Abbildung) u. a. O. zahlreiche Proben erhalten sind, hat sogar griechische Stoffe zur Darstellung gebracht. Beispiele etruskischer Kunstfertigkeit s. auf den Tafeln »Ornamente I« (Fig. 40–43), »Gemmen« (Fig. 3 u. 9), »Ringe« (Fig. 13–15). Das bei ihnen übliche Musikinstrument war die griechische Flöte, neben der auf Denkmälern auch die Zither erscheint. Griechische Schauspiele sind, wie die Theater in Fäsulä u. a. O. bezeugen, entweder in der Übersetzung oder in der Ursprache ausgeführt worden, wie denn auch die griechische Sage nach Ausweis der Denkmäler ihnen geläufig gewesen ist. Sonst erfahren wir von einer nationalen Dichtkunst nichts. Unter den Wissenschaften übten die Etrusker Heilkunde, Naturkunde und Astronomie, und besonders als Ärzte genossen sie einen nicht unbedeutenden Ruf bei den Griechen. Die von ihnen gerühmte Kunst des Wasserfindens oder Regenlockens (aquaclicium) beruhte offenbar auf tieferer Kunde der Natur. Ihre Zeitrechnung folgte genauen Gesetzen. Sie bestimmten den Anfang des Tages durch den höchsten Stand der Sonne und bedienten sich wirklicher Mondmonate. Ihr Zahlensystem war das duodezimale.

Auch die Götterlehre der Etrusker unterlag frühzeitig griechischen Einflüssen, indem man hellenische Gottheiten teils geradezu dem Götterkreis der Etrusker einverleibte, wie das z. B. bei Dionysos der Fall war, teils dieselben den alten tuskischen Göttern unterschob, wodurch von mehreren der letztern der ursprüngliche Begriff ganz verloren gegangen ist. Zwei Ordnungen von Göttern wurden unterschieden: die obern oder verhüllten Gottheiten, die Jupiter befragt, wenn er eine Veränderung des bisherigen Zustandes durch einen Blitz verkünden will, und die Zwölfgötter, die Jupiters gewöhnlichen Rat bilden, mit dem lateinischen Namen Consentes genannt. Als den Etruskern eigentümliche Gottheiten werden genannt: Vertumnus, eine Naturgottheit, die, wie es scheint, die Verwandlungen in der Natur bezeichnete; Nortia, eine Schicksalsgöttin; der von den Römern sogen. Vejovis oder Vedius, der böse Jupiter, dessen tuskischer Name nicht bekannt ist; der dunkle Summanus; die Unterweltsgottheiten Mantus und Mania, nebst den Manes; Voltumna, die Göttin des Bundestempels; die freundliche Göttin der Geburt, Mater Matuta, mit einem berühmten Tempel zu Cäre; Menerfa oder Meurfa, eine Blitzgöttin, die sich in Rom unter griechischem Einfluß zur Minerva ausbildete, die Lares, die Namen und Begriff in Rom beibehalten haben, u. a. Die Religiosität der Etrusker war von einem starren Formalismus beherrscht, der sich auch in den von den Griechen übernommenen Spielen und Festaufzügen kundgab; sie mußten wiederholt werden, wenn irgendwie von der Regel abgewichen worden war. Man weissagte aus dem Flug der Vögel (augurium), aus dem Fraß heiliger Hühner, aus den Erscheinungen am Himmel, besonders den Blitzen, aus den Eingeweiden der Opfertiere (haruspicium) und verehrte als Vater dieser Wahrsagekunst einen Dämon, namens Tages, der, ein Kind von Jahren und Gestalt, aber grau an Weisheit, in einer Ackerfurche entdeckt ward und den Lucumonen das Geheimnis offenbarte. Eigen war der Religion der Etrusker ferner die Neigung zum Finstern und zur Grausamkeit; das Totenreich erschien ihnen namentlich von seiner schrecklichen Seite als ein Ort der Peinigung, von den griechischen Sagen haben ihre Künstler die schrecklichen bevorzugt, sie kannten auch Menschenopfer, und die Gladiatorenspiele der Römer sind eine etruskische Erfindung gewesen.

Was die politischen Verhältnisse betrifft, so wurden in der frühesten Zeit die einzelnen Städte von einem König (Lars oder Larth) regiert, an dessen Stelle später jährlich wechselnde Magistrate traten. Die Bevölkerung bestand aus den herrschenden Geschlechtern (lucumones) und aus Untertanen, die mit den thessalischen Penesten oder den Heloten verglichen werden. Ein ziemlich loser Bund hielt die (zwölf) Stadtrepubliken zusammen; man vereinigte sich alljährlich, in dringendern Fällen auch öfter, beim Tempel der Göttin Voltumna in der Nähe des Vadimonischen Sees, veranstaltete gemeinsame Opfer und Spiele, wählte einen Oberpriester und im Fall eines Krieges einen gemeinsamen Bundesfeldherrn, beschloß über Krieg und Frieden und beratschlagte über alle die Gesamtheit angehenden Gegenstände, ließ aber über die innern Verhältnisse jeder Stadt den Adel mit voller Selbständigkeit verfügen.

Die Blütezeit der etruskischen Macht fällt in die Jahre 800–400 v. Chr., in der sie sich nicht nur über ein Land von rund 3000 QM. ausdehnte, nämlich außer E. über das Gebiet zwischen Apennin und Po und den mittlern Teil der nördlichen Poebene (Mantua, Melpum und Felsina, jetzt Bologna, waren etruskische Städte) sowie über Kampanien, das die Etrusker um 800 erobert hatten, sondern auch das Meer an der Westküste Italiens beherrschte, das die Griechen daher das Tyrrhenische nannten. Auch das Königtum der Tarquinier in Rom scheint auf etruskischen Einfluß hinzuweisen, und nach ihrer Vertreibung hat sich die junge Republik dem clusinischen Porsena beugen müssen. Um sich gegen die Ausdehnung der griechischen Seeherrschaft zu schützen, verbündeten sich die etruskischen Städte mit Karthago (Anfang des 6. Jahrh.) und vertrieben mit ihm vereint die Phokäer, die sich in Alalia auf Korsika niedergelassen hatten (540). Der Niedergang begann, als Aristodemos einen Angriff der Etrusker von Cumä zurückwies (um 524), Rom ihre Herrschaft abschüttelte und ihre Flotte vor Cumä von dessen Bewohnern und Hieron von Syrakus vollständig geschlagen wurde (474). Seitdem wichen sie auf dem Meer vor den Griechen und den Karthagern zurück, die Kelten verdrängten sie aus Oberitalien, die Samniter aus Kampanien; gegen das sich nach dem gallischen Einfall nach Norden ausbreitende Rom suchten sie Hilfe bei den Samnitern und beteiligten sich an dem zweiten und dritten Samniterkrieg, gerieten aber, namentlich infolge der Sonderpolitik der Städte, nach dem Siege der Römer bei Sentiunm 295 unter die römische Herrschaft, die sich von da an mehr und mehr befestigte, so daß E. ums Jahr 280 als den Römern völlig unterworfen gelten konnte; nur Sprache, Sitte, religiöse Disziplin und meist auch die innere Verfassung der einzelnen Staaten bestanden noch fast zwei Jahrhunderte in ihrer Eigentümlichkeit fort, und E. war immer noch ein reiches, blühendes Land. Erst von Sulla wurde es infolge seines Festhaltens an der demokratischen Sache nach harten Kämpfen seiner nationalen Einheit beraubt und durch zahlreiche Militärkolonien in Stücke zerrissen. Noch einmal tauchte der alte Name des Landes auf, als E. 1801 dem Erbprinzen Ludwig von Parma als Königreich überlassen wurde (s. darüber den folgenden Artikel).

Literatur. Quellen sind, abgesehen von den einheimischen Kunstdenkmälern und Inschriften, griechische und römische Aufzeichnungen und Traditionen, die uns jedoch nur in Bruchstücken bei verschiedenen Autoren überliefert sind. Von neuern Schriften über E. sind außer DempsterDe Etruria regali«, 1726) und GoriMuseum etruscum«, 1737–43, 3 Bde.) die wichtigsten: Inghirami, Monumenti etruschi (Flor. 1825, 10 Bde.); O. Müller, Die Etrusker (Bresl. 1828, 2 Bde.; neue Ausg. von Deecke, Stuttg. 1877); Abeken, Mittelitalien vor den Zeiten der römischen Herrschaft nach seinen Denkmalen dargestellt (das. 1843); »Musei etrusci monumenta« (Prachtwerk, Rom 1842, 2 Bde.); Dennis, The cities and cemeteries of Etruria (2. Aufl., Lond. 1878, 2 Bde.; deutsch von Meißner, Leipz. 1851); Desvergers, L'Étrurie et les Étrusques (Par. 1864, 2 Bde.); Gray, History of Etruria (Lond. 1843–70, 3 Bde.); Taylor, Etruscan researches (das. 1874); Genthe, Über den etruskischen Tauschhandel nach dem Norden (Frankf. 1874); Martha, L'art étrusque (Par. 1888); Seemann, Die Kunst der Etrusker (Dresd. 1890); Pauli, Corpus inscriptionum etruscarum (bisher Bd. 1, Leipz. 1893–1902); Derselbe, Die Urvölker der Apenninenhalbinsel (im 4. Bande von Helmolts »Weltgeschichte«, das. 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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