Viscum

Viscum

Viscum Tourn. (Mistel), Gattung der Loranthazeen, kleine, grüne Schmarotzersträucher mit gegen ständigen, gegliederten Ästen, einfachen, gegenständigen Laubblättern oder nur mit schuppenartigen Blättern, diözischen oder monözischen Blüten in kleinen, wenigblütigen, end- und achselständigen Köpfchen (selten einzeln) und ein- bis dreisamiger Scheinbeere. Etwa 30 Arten in Europa, Asien, Afrika und Australien. V. album L. (Eichen-, Leimmistel, Kluster, heiliges Kreuzholz, s. Tafel »Schmarotzerpflanzen I«, Fig. 1), ein bis im und mehr im Durchmesser erreichender Busch mit länglichen, stumpfen, lederartigen Blättern, zu 3–5 beisammenstehenden, diözischen, gelblichgrünen Blüten und weißen Beeren. schmarotzt auf ca. 50 Laub- und Nadelhölzern Europas und Asiens, am häufigsten auf Apfel- und Birnbäumen, Pappeln, Weiden, Birken, Weißtannen, sehr selten auf Eichen. Sie wird durch Vögel, besonders Drosseln, welche die Beeren fressen und die Samen im Kot auf andre Bäume absetzen, verbreitet. Vgl. Schmarotzerpflanzen. Die gegabelten, im Winter goldgrün berindeten Zweige der Mistel gaben das Vorbild der goldenen Zauberrute, von der die Sage von der Wünschelrute (s. d.) abstammt. Äneas muß sich das »goldene Reis« verschaffen, um in die Unterwelt einzudringen und es der Persephone zu überreichen. Hermes-Merkur bedarf desselben Gabelzweiges, um sich die Pforten der Unterwelt zu öffnen, wenn er die Toten hinab geleitet, und mit Recht übersetzten daher altdeutsche Glossarien das Wort Caduceus mit Wunciligerta. d. h. Wünschelrute, wie ja beide gabelästig gedacht wurden. Genau so wie Homer und Vergil von jenem Zwieselstab sagen, daß er Reichtum verleiht, »Schlummer gibt und enthebt und vom Tode selbst die Augen entsiegelt«, hält Odin in seiner Hand den »Wunsch«, die Reif- oder Winterrute, mit der er Brunhilde und die gesamte Natur in den Todesschlaf versenkt, bis Siegfried (die Frühlingssonne) kommt, den Eispanzer zerschneidet und die Schlafende wach küßt. Diese in der Edda so oft erwähnte Winterrute ist offenbar identisch mit dem Mistilteinn der Edda, jenem Zweige, mit dem der blinde Wintergott (Hod) den lichten Sonnen- und Sommergott (Balder) niederstreckt. So ist der Gabelzweig der Mistel das Symbol der Wiederbelebung der erloschenen Sonnenkraft, die in ihm allein lebendig bleibt, daher seine allheilende und belebende Kraft gegen alle Übel. Am Tage von Balders Neugeburt, wenn die größte Sonnenschwäche vorüber ist, am Julfest oder zu Neujahr, sammelte man feierlich die Allheilende, um alle Räume während der Festzeit damit zu schmücken und zu weihen. Die Druiden kannten nichts Heiligeres als die Mistel und den Baum, auf dem sie wächst, namentlich wenn es eine Wintereiche (Quercus robur) war, und holten sie mit großer Feierlichkeit ein. Nach Plinius war der Hauptsammeltag das Neujahrsfest, und in Frankreich laufen noch hier und da die Kinder am Silvester oder Neujahr mit einem Mistelbusch von Haus zu Haus und heischen mit dem Rufe: »Aguillanneuf«! (entstanden aus: »an gui l'an neuf«!) Eßwaren und Geschenke. In Deutschland scheint der Ruf »Guthyl« und das Neujahrs-»Anklopfen« mit grünen Ruten dem zu entsprechen. In England hängt man zu Weihnachten an die Stubendecken und über die Türen Mistelbüsche, und alte Schriften, in denen das Mistelholz dem ehemals gabelig dargestellten Kreuz Christi verglichen wird, machen wahrscheinlich, daß die Kirche das Mistelholz als »heiliges Kreuzholz« anerkannte. Seit Plinius hat die Mistel für ein Spezifikum gegen Epilepsie gegolten. V. quercinum, s. Loranthus. Vgl. Bruck, Biologie, praktische Bedeutung und Bekämpfung der Mistel (Flugblatt des kaiserlichen Gesundheitsamtes, Berl. 1905); v. Tubeuf, Die Mistel (Wandtafel, Stuttg. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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