Rheumatismus

Rheumatismus

Rheumatismus (v. griech. rhein, fließen, Fluß, Gliederreißen), Krankheiten, die unter mehr oder weniger heftigen Schmerzen der Gelenke und Muskeln bei oft wenig auffallenden anatomischen Störungen in den genannten Organen verlaufen. Eine wichtige Rolle bei der Entstehung des R. spielt die Erkältung; zwar bringt durchaus nicht jede Erkältung R. hervor, und durch Erkältung allein entsteht wahrscheinlich nur die Disposition zum R., indem für die Wirksamkeit von Bakterien ein günstiger Boden geschaffen wird. Der akute Gelenkrheumatismus (Polyarthritis rheumatica, R. articulorum acutus) ist ein typisch verlaufendes Leiden, das auf Infektion mit Mikroorganismen beruht und in vielen Fällen wohl sicher als eine metastatische Gelenkentzündung, d. h. als eine durch Einschleppung von Mikrobien von einem entferntern Krankheitsherd her hervorgerufene, angesehen werden muß. Unter allen Anzeichen der allgemeinen Infektion des Körpers werden mehrere Gelenke oder auch zuerst eins, dann in sprunghaftem Weiterschreiten zahlreiche Gelenke von einer höchst schmerzhaften akuten Entzündung befallen. Durch Ausschwitzung einer serösen Flüssigkeit seitens der das Gelenk auskleidenden Haut schwillt es an, es ist dabei gerötet, beim Befühlen heiß und höchst empfindlich. Auch Sehnenscheiden und Schleimbeutel können an solchen Entzündungen teilnehmen. Das Fieber ist von wechselnder Höhe, selten ist die tödliche hyperpyretische Form mit Temperaturen von 41–42°, ja von 44°. Die Gelenkentzündungen zeigen oft einen sprunghaften Wechsel, einzelne schwellen ab, andre werden von einer Entzündung befallen. Der Krankheit gehen nicht selten Halsentzündungen voraus, und diese stellen wohl manchmal die Eintrittspforte für die erregenden Mikroorganismen dar. Eine sehr häufige, für den Verlauf sehr wichtige Komplikation des akuten Gelenkrheumatismus ist die Miterkrankung des Herzens. Ein großer Teil der Fälle von Herzklappenfehlern ist auf diese Krankheit zurückzuführen. Es handelt sich dabei um Ansiedelung im Blute kreisender Bakterien in den Herzklappen, wodurch deren Entzündung, später ihre chronische Schrumpfung und Verwachsung verursacht wird. Seltener ist die Herzbeutelentzündung (Pericarditis), häufig dagegen entstehen Herzmuskelerkrankungen, die anfangs oft kaum bemerkt, durch jahrelangen schleichenden Verlauf schädlich werden können. Die Haut beteiligt sich durch starke Neigung zu Schweißen und verschiedenartige Ausschläge an dem Krankheitsbild. – Der akute Gelenkrheumatismus ist in verschiedenen Ländern, von Klima, Witterungseinflüssen und ähnlichem nicht deutlich abhängig, in sehr verschiedener Häufigkeit verbreitet. Die meisten Erkrankungen befallen das Lebensalter zwischen dem 6. und dem 30. Jahr, selten erkranken Kinder und Greise. Ein bestimmter Mikroorganismus als Urheber des Gelenkrheumatismus kann nicht genannt werden, meist fand man verschiedene Arten von Kokken, namentlich Streptokokken. Vielleicht sind die Gelenkentzündungen manchmal nicht von den Kokken selbst, sondern von ihren Toxinen verursacht. Über den örtlichen Verlauf der Gelenkerkrankung s. Gelenkentzündung. Der R. dauert oft in großer Heftigkeit viele Wochen hindurch; Rückfälle sind sehr häufig. Bei spätern Anfällen des R. stellen sich auch Nachschübe des Herzleidens ein, so daß die Gefahr sich von Anfall zu Anfall steigert. Als ein fast spezifisches Mittel gegen den akuten Gelenkrheumatismus hat Stricker in den 1870er Jahren den innern Gebrauch großer Gaben von Salizylsäure entdeckt. Wenn die Salizylsäure oder ihr Natronsalz, wie es gar häufig der Fall ist, schlecht vertragen werden (Übelkeit, Ohrensausen), so gebraucht man verschiedene der Salizylsäure teilweise nahe verwandte Stoffe, wie Aspirin, Phenazetin, Antipyrin. Die Gelenke bestreicht man zweckmäßig mit einer Mischung von Öl und Mesotan, das durch die Haut aufgesogen wird und Salizylsäure im Körper abspaltet. Außerdem muß man die erkrankten, stark geschwollenen Gelenke ruhig lagern und mit Watte einhüllen. Nicht im Anfang, aber in den spätern Stadien des akuten Gelenkrheumatismus sucht man durch warme Bader und Massage die Aufsaugung der entzündlichen Massen und die Wiederherstellung der Beweglichkeit zu beschleunigen. Es gilt hierfür dasselbe wie für den chronischen Gelenkrheumatismus.

Der chronische Gelenkrheumatismus betrifft meist nur ein einzelnes oder wenige Gelenke, springt nur selten von einem Gelenk auf ein andres über und führt trotz seiner langen Dauer doch nur zu verhältnismäßig geringen anatomischen Veränderungen der befallenen Gelenke. Er entwickelt sich in vielen Fällen aus einem akuten R. In andern Fällen tritt er von Anfang an als chronische, fieberlose, allmählich sich entwickelnde Krankheit auf. Der Verlauf der Krankheit ist verschieden. In dem einen Falle sind einzelne Gelenke längere Zeit, oft mehrere Monate und Jahre hindurch, der Sitz beständiger Schmerzen. Druck auf die kranken Gelenke und Bewegungen vermehren die Schmerzen, die überdies manchmal auch ohne besondern Grund, besonders in den Abendstunden, stärker hervortreten. Manchmal sind die Gelenke geschwollen, oder sie scheinen es wenigstens zu sein, weil die Muskeln in der Umgebung geschwunden sind. In dem andern Falle besteht der chronische Gelenkrheumatismus im Grunde genommen aus einer Reihe sehr oft und in kurzen Pausen wiederkehrender leichter Anfälle des akuten Gelenkrheumatismus, wobei immer nur ein oder wenige Gelenke ergriffen werden. Ein hartnäckiger chronischer R. eines einzelnen Gelenkes (meist eines Kniegelenkes) kommt manchmal beim Tripper durch Ansiedelung der Gonokokken im Gelenk vor. Bei längerer Dauer des chronischen R. entsteht häufig das Bild der deformierenden Gelenkentzündung (s. Gelenkentzündung 4). Eine eigentümliche Form der Krankheit entsteht durch das allmähliche Steifwerden der Wirbelsäule bei schleichender Erkrankung der Wirbelgelenke (Spondylitis deformans), bei der Kopf, Rumpf und Becken fast unbeweglich miteinander verbunden sein können. Der chronische Gelenkrheumatismus ist sehr hartnäckig und bleibt, wenn er einmal eingewurzelt ist, oft während des ganzen Lebens bestehen, kompliziert sich übrigens gern mit rheumatischen Nervenschmerzen und rheumatischen Lähmungen. Bleibt er auf einzelne Gelenke fixiert, so wird er am besten durch örtliche Mittel behandelt; wechselt er dagegen seinen Sitz, so muß eine allgemeine Behandlung eingeleitet werden. Für die örtliche Behandlung sind Senfteige, Bepinselungen mit Jodtinktur, Einreibungen von spirituösen und reizenden Mitteln (Kampferspiritus, flüchtiges Liniment etc.) am Platze. Manche Fälle eignen sich auch vortrefflich für eine Massagebehandlung. Für die allgemeine Behandlung des chronischen Gelenkrheumatismus verdient die systematische Anwendung warmer Bäder das meiste Vertrauen (Wiesbaden, Gastein, Öynhausen, Teplitz, Wildbad etc.). Mit gutem Erfolg hat man lange fortgesetzte warme Sandbäder (Köstritz bei Gera) gegen chronischen R. gebraucht. Zur Behandlung einzelner Gelenke ist das lokale Heißluftbad, eventuell in Gestalt des Glühlichtbades, sehr brauchbar, ebenso Einhüllung des erkrankten Gliedes mit Fangoeinpackungen. Innerlich ist die Anwendung von Jodkali und Kolchikumtinktur zu empfehlen. Dem Patienten ist außerdem das Tragen von Flanell auf dem bloßen Leib anzuraten. Um steif gewordene Gelenke beweglicher zu machen, benutzt die Heilgymnastik zahlreiche Apparate, der Muskelschwund in der Umgebung der Gelenke erfordert Anwendung der Elektrizität.

Der Muskelrheumatismus ist eine die Muskeln, die Knochenhaut und Muskelbinden ergreifende schmerzhafte Krankheit, welche die betreffenden Teile bald garnicht verändert, bald infolge des Nichtgebrauchs zum Schwund (zur rheumatischen Lähmung) der Muskeln führt. Das wichtigste und oft einzige Symptom des Muskelrheumatismus bilden ziehende und reißende Schmerzen, die durch Bewegung gesteigert, durch gleichmäßigen Druck aber gemildert zu werden pflegen. Bei ganz hohen Graden dieses R. können die kranken Muskeln nicht willkürlich bewegt werden. Die Haut über den schmerzenden Stellen erscheint gewöhnlich normal. In den Abendstunden pflegen sich die Beschwerden zu steigern, am Morgen dagegen zu mildern. Kälte und Feuchtigkeit erhöhen die Schmerzen, während trockne Wärme sie wesentlich mildert. Manchmal scheinen sich jedoch die rheumatischen Schmerzen durch die Bettwärme zu vermehren. Bald ist der Muskelrheumatismus ein vager, indem die Schmerzen an der einen Stelle verschwinden, um an einer andern wieder aufzutreten, bald bleibt er auf gewisse Muskeln beschränkt. Meist ist er ein akutes Leiden, das nach kurzem Bestand spurlos verschwindet; doch kann die Krankheit auch chronisch werden. Auch gehört hierher der sogen. rheumatische Kopfschmerz, der seinen Sitz in den Muskeln, Aponeurosen und in der Kopfhaut des Schädels hat (Kopfgicht); desgleichen der rheumatische Brustschmerz, der in den Brust- und Zwischenrippenmuskeln sitzt. Befällt der (meist akute) Muskelrheumatismus den Kopfnicker einer Seite, so spricht man von Schiefhals; die Erkrankung der Lendenmuskulatur heißt Hexenschuß. Die Behandlung des Muskelrheumatismus muß nach denselben Grundsätzen und mit denselben Mitteln vorgenommen werden, wie sie oben beim chronischen Gelenkrheumatismus angegeben wurden. In Fällen, die der Einwirkung der Thermenbäder widerstehen, ist die Elektrizität und die Massage zu empfehlen. In frischen Fällen von Muskelrheumatismus ist ein einmaliges Dampfbad oft von auffallend günstiger Wirkung. Vgl. Senator, Akuter Gelenkrheumatismus (in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie«, Berl. 1879); Lenhartz, Behandlung des akuten und chronischen Gelenkrheumatismus und der rheumatoiden und Muskelerkrankungen (in Penzoldt-Stintzings »Handbuch der Therapie«, 5. Bd., 3. Aufl., Jena 1903); Přibram, Der akute Gelenkrheumatismus (in Nothnagels »Pathologie und Therapie«, Wien 1899); Delpeuch, Histoire des maladies. La goutte et le rheumatisme (Par. 1900).

Bei Tieren ist R. im allgemeinen seltener. Der Muskelrheumatismus entsteht durch Erkältung, namentlich bei Pferden und Lämmern, auch bei Rindern und Hunden. Gegenden mit rauherm Klima eignen sich nicht für Aufzucht feinerer Schafrassen wegen Empfänglichkeit der Lämmer gegen R. Die Behandlung des Muskelrheumatismus besteht in warmer Einhüllung, Frottierung, Einreibung mit Kampferspiritus und ähnlichem, wobei das Leiden oft sehr rasch wieder verschwindet. Gelenkrheumatismus findet sich häufig genug beim Rind, bisweilen auch bei kleinen Haustieren, beim Pferde nur selten. Meist sind mehrere Gelenke zugleich erkrankt, namentlich Knie und Fußwurzeln, der Verlauf ist meist chronisch und kann das Herz in Mitleidenschaft ziehen. Heilungen in einigen Wochen kommen vor. Der Regel nach gestaltet sich der Verlauf nach monatelanger Dauer bei scheinbaren Besserungen und Rückfällen so ungünstig, daß schließlich bei Rindern Schlachtung nötig wird, die man daher am besten nach Sicherung der Diagnose gleich vornimmt.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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