Kinderehe

Kinderehe

Kinderehe. Die vollkommen rechtsverbindliche Verheiratung von Kindern seitens ihrer Eltern lange vor der Pubertät mit gleichalterigen oder ältern Personen ist eine über viele Völkerschaften mit primitiver und fortgeschrittener Kultur in Europa, Asien, Afrika und Australien verbreitete Sitte. Es werden dabei die gewöhnlichen Hochzeitszeremonien vollzogen, die üblichen Kaufgelder gezahlt, Geschenke gemacht etc., obwohl der abwesende Gatte häufig durch eine andre Person vertreten ist und vorläufig von geschlechtlichem Verkehr der teilweise oder beiderseits noch im kindlichen Alter befindlichen Ehegatten nicht die Rede sein kann. Bei manchen Stämmen ist sogar der bloße gesellige Verkehr der Ehegatten starken Beschränkungen unterworfen, z. B. bei den Alfuren und auf Neuguinea, wo sich die Eheleute nicht sehen dürfen und die Frau sich vor dem zufällig vorübergehenden Gatten verbergen muß. Bei der früher und auch jetzt noch in verschiedenen Gegenden Großrußlands bis nach Bulgarien und in den Karpathen bei Huzulen und Pokutiern verbreiteten Schwiegertochter-Ehe (Snochacestwo) verheiratet der Vater seinen 8–9jährigen Sohn mit einem 10–15 Jahre ältern Mädchen und vertritt dann dessen Stelle, während die Kinder als diejenigen seines Sohnes gelten. Man hat dieses Institut der K. wohl aus der primitiven Gesellschafts- und Gruppenehe hergeleitet; es entspricht aber in andern Fällen mehr patriarchalischen Sitten und Einrichtungen, wodurch Familien, die ihre Beziehungen enger zu knüpfen wünschen, schon ihre Kinder miteinander verloben, wie es noch heute bei Juden, Mohammedanern, Serben und Albanesen, die ihre Kinder schon in der Wiege verloben, sehr verbreitet ist. Diese Verlöbnisse mögen oft frühern Kinderehen, die mit der Ausbildung höherer gesellschaftlicher Organisation oft geradezu verboten werden mußten, z. B. in China, entsprechen. In Indien besteht die K. mit allen ihren Konsequenzen noch heute, und es galt dort früher als sündhaft, im Haus eine mannbare Tochter zu haben, die noch nicht verheiratet war. Als letzter Termin für die Verheiratung der Töchter gilt dort das zwölfte, als untere Grenze das vierte Jahr, aber bis zum Eintritt der Pubertät bleibt die verheiratete Tochter im Hause der Eltern. Alsdann erst findet die zweite, eigentliche Hochzeit (garbhādhāna, d. h. Befruchtung) statt. Stirbt der Gatte, bevor er seine Frau berührt oder auch nur gesehen hat, so treten für diese alle Konsequenzen der indischen Witwenschaft in Wirksamkeit. In den nordwestlichen Provinzen waren 1891 im Alter von 10–14 Jahren neun Zehntel aller Mädchen verheiratet, darunter von 10,000 Mädchen ca. 1000 schon zwischen fünf und neun Jahren und 63 schon vor dem vierten Jahre. Von 10,000 Knaben waren im Alter von 10–14 Jahren ungefähr die Hälfte, im Alter von 5–9 Jahren erst 433 verheiratet. Die Frühverheiratung betrifft also dort vorzugsweise das weibliche Geschlecht, und ist bei den brahmanischen Kasten verbreiteter als bei den Ureinwohnern (Drawidiern), dagegen vielfach von mohammedanischen Stämmen angenommen. Vgl. Jolly, Abschnitt. ›Recht und Sitt‹ in Bühlers »Grundriß der indoarischen Philologie und Altertumskunde«, 2. Bd., 8. Heft (Straßb. 1896); Post, Studien zur Entwickelungsgeschichte des Familienrechts (Oldenb. 1889) und Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz (das. 1894–95, 2 Bde.); Garbe, Indische Reiseskizzen (Berl. 1889) und The redemption of the Brahman (Chicago 1894); bezüglich der großrussischen Stämme Rhaman im »Globus«, Bd. 82 (1902). Vgl. auch Ehe, S. 397.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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