Fortschrittspartei

Fortschrittspartei

Fortschrittspartei, deutsche, nannte sich die Gruppe entschieden liberaler Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses, die sich 1861 von der großen altliberalen (Vinckeschen) Fraktion loslöste und sich mit der Fraktion Jung-Litauen sowie mit der seit Waldecks Wahl (Dezember 1860) wieder auf dem politischen Kampfplatz erscheinenden demokratischen Partei verband. Das am 9. Juni 1861 zu Berlin festgestellte Programm forderte in der deutschen Frage eine starke Zentralgewalt in der Hand Preußens, in der innern Politik weitgehende Reformen, lehnte aber die Heeresreform ab. Die bei den Neuwahlen 6. Dez. 1861 erlangte Mehrheit im Abgeordnetenhaus behauptete sie in allen Sessionen bis 1866 und verharrte in unbedingter Opposition gegen das Ministerium Bismarck, auch gegen dessen auswärtige Politik; die Führer der Partei waren Mitglieder des Sechsunddreißiger-Ausschusses. Nach dem Kriege von 1866 begründete ein großer Teil der F. die Nationalliberale Partei (s.d.). Der andre, unter Führung von Hoverbeck, Virchow, Waldeck, behielt den Namen F. Die neue F. billigte zwar die Einverleibungen, erklärte sich aber gegen die Indemnität. Im konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes lehnte die Mehrheit der F. die vorgelegte Verfassung ab (16. April 1867) und beantragte auch im preußischen Landtag ihre Ablehnung. Gegen die Annahme der deutschen Reichsverfassung 1871 opponierte sie aber nicht mehr; auch das Kompromiß in der Militärfrage 1874 billigten mehrere einflußreiche Mitglieder der Partei, die deshalb ausschieden. Im preußischen Landtag stimmte die Mehrheit der F. für die Kirchengesetze vom Mai 1873 sowie auch meistens für die Reformen der Verwaltung. Gleichwohl kam eine Wiedervereinigung mit den Nationalliberalen nicht zustande, zumeist aus persönlichen Gründen. Unter dem Rückschlag gegen die liberale Richtung der Gesetzgebung seit 1871 hatte die F. besonders zu leiden, indem die Zahl ihrer Mitglieder 1878 im Reichstag auf 25, im Landtag 1879 auf 38 sank. Das Programm der deutschen F. von 1878 spricht aus, daß die Partei in Treue gegen den Kaiser auf dem verfassungsmäßigen Boden des Bundesstaats die Aufgaben erfüllen werde, die ihr für das Deutsche Reich und das deutsche Volk erwachsen. Als solche Aufgaben werden unter anderm bezeichnet: Entwickelung der parlamentarischen Verfassung durch Kräftigung der Rechte des Reichstags, Errichtung eines verantwortlichen Reichsministeriums, allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht, dreijährige Legislaturperiode, jährliche Feststellung der Friedenspräsenzstärke, jährliche Steuerbewilligung, Festhaltung der bewährten Grundsätze der Zollvereinspolitik, keine Monopole, Freizügigkeit, Gewerbe-, Koalitionsfreiheit, gewerbliche Schiedsgerichte, Gewissens- und Glaubensfreiheit des Einzelnen. Die 1879 eingeführte neue Zollpolitik, die den Zerfall der Nationalliberalen Partei zur Folge hatte, vermehrte die Anhänger der F., und um ihrem Widerstand gegen die Bismarcksche Politik mehr Nachdruck zu geben, verschmolz sich die F. im Reichstag und Abgeordnetenhaus 5. März 1884 mit den ehemals nationalliberalen Sezessionisten zu der neuen Deutschen freisinnigen Partei (s.d.), die im wesentlichen die Grundsätze und Haltung der F. annahm. S. Karte »Reichstagswahlen«. Da in Bayern und Hessen inzwischen die F. den nationalliberalen Namen angenommen hatte, so existiert in Deutschland der Name F. offiziell nicht mehr. – In andern Ländern kommt der Name F. oder Progressisten für die entschieden liberale Partei auch vor.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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